Online Shopping

WAS DER EINZELHANDEL JETZT VOM INTERNET LERNEN MUSS

2016 wird als Wendepunkt in die Geschichte der Branche eingehen. In diesem Jahr erreichten die Verkäufe über E-Commerce in den USA zum ersten Mal einen Anteil von 10,6 % am gesamten Einzelhandelsumsatz. Dabei verzeichneten die Umsätze stationärer Einzelhändler lediglich einen Zuwachs von 2 %, die über das Internet generierten Umsätze dagegen eine Steigerung um durchschnittlich 15 %. Angeführt wird diese Entwicklung von Amazon. Der Online-Händler liegt mit einer Umsatzsteigerung von 16,3 % aus dem E-Commerce-Geschäft deutlich über diesem Mittelwert. Damit wird der Online-Handel zu einer echten Herausforderung für traditionelle Marktteilnehmer.

Allerdings finden knapp 90 % aller Verkäufe nach wie vor in stationären Geschäften statt, was heißt, dass die Branche nicht still steht und die Chance hat aufzuholen. So ist jetzt ein guter Moment, um einmal näher zu betrachten, was genau sich der Einzelhandel vom Internet abschaut, um seine Verkaufsstrategien zu optimieren.

Der stationäre Laden als unverzichtbare Facette des Einzelhandels

Mitte Januar fand in New York die National Retail Federation Show 2017 statt, eines der größten Branchenevents, das von der US-amerikanischen National Retail Federation (NRF) organisiert wurde. Auf der Eröffnungsveranstaltung rief Kip Tindell, der damalige Vorstandsvorsitzende der NRF, den Teilnehmern die enorme Bedeutung in Erinnerung, die den klassischen Einzelhandelsgeschäften zukommt.

Dort würde nämlich der weitaus größte Teil der gesamten Branchenumsätze erzielt. Insbesondere hob er die Wechselwirkung zwischen Online- und Offline-Vertriebskanälen hervor. So würden zum Beispiel Ladenverkäufe im Wert von 1,8 Mrd. US-Dollar infolge eines Besuchs bei Online-Portalen generiert werden. Diese Zahlen belegen auch Prognosen von Forrester Research, nach denen 2020 bereits 30 % aller Offline-Verkäufe aus Online-Aktivitäten stammen werden.

Und doch gelten konventionelle Geschäfts- und Verkaufsräume trotz ihres Potenzials nur allzu oft als eines der schwächsten Glieder unter den Einkaufsmöglichkeiten. Aus diesem Grund suchen Händler schon seit geraumer Zeit nach Wegen, um sich neu zu erfinden.

Nummer Eins unter den in diesem Zusammenhang heiß diskutierten Themen ist das Kundenerlebnis. Dahinter steht die Idee, den stationären Handel zu einem Ort zu machen, an dem die Kunden angebotene Produkte direkt ausprobieren und aus erster Hand mehr über sie erfahren können. Um Marken und Einzelhändler beim Schritt in die Digitalisierung zu unterstützen, werden derzeit, basierend auf einer Analyse der Kundendaten, zahlreiche Lösungen entwickelt.

Die Kunden verstehen … genau so, wie Webseiten ihre Nutzer verstehen

Geschäfte ziehen, ebenso wie Webseiten, Besucherströme an, aus denen nützliche Daten gezogen werden. So können Kunden nach ihrem Profil wie Geschlecht, Alter, Demografie und so weiter gruppiert und auf dieser Basis sowohl Angebote wie auch Kundenservice in Echtzeit erhalten.

Webseiten erfassen naturgemäß solche Daten wesentlich reibungsloser, nämlich über das Zählen von Klicks oder die Verwendung von Cookies, die es ermöglichen, den Nutzern auf verschiedenen Internetseiten zu folgen. In der Offline-Welt gestaltet sich die Anwendung dieser Tracking-Technologien natürlich weitaus schwieriger. Dennoch werden sie auch in stationären Verkaufsräumen mehr und mehr zum Standard.

Wissen, wer da kommt

Countbox, ein Anbieter von Analyselösungen für den Einzelhandel mit Sitz in Chicago, ermöglicht Ladeninhabern, die Kunden vom Moment des Betretens des Geschäftes an mit Hilfe vor Ort installierter Videokameras zu zählen. So wird es möglich, neben der Anzahl hereinkommender und hinausgehender Kunden mittels Gesichtserkennungstechnologie auch qualitative Daten wie Geschlecht, Alter, ethnische Herkunft, ja selbst ihre momentane Stimmung zu erfassen.

Und ebenso, wie eine Webseite wiederkehrende Besucher erkennt, solange diese ihr Identifizierungssystem nicht deaktivieren, versetzt Countbox ein Einzelhandelsgeschäft in die Lage, wiederkehrende Kunden in Echtzeit zu erkennen. Das allerdings funktioniert nur, wenn diese vorher erfolgreich dazu animiert wurden einem Treueprogramm beizutreten.

Wünsche wecken und erfüllen

Sind die Kunden erst einmal im Laden, besteht die Aufgabe darin, ihr Verhalten zu analysieren, indem man misst, in welchen Räumen sie sich bewegen, sowie die Zeit, die sie bei jedem Produkt verbringen. So lassen sich gesicherte Erkenntnisse darüber gewinnen, was Verkäufe antreibt. Dies tut zum Beispiel die Firma Prism aus San Francisco. Sie verfolgt die Wege der Kunden im Geschäft und registriert alle Stellen, an denen diese länger verweilen.

Die von Prism entwickelte Lösung analysiert und erfasst Besucher außerdem anteilsmäßig nach der Art ihres Aufenthaltes, und zwar mit Hilfe einer Variante des A/B-Tests, einem der effektivsten Tests, die die Netzwelt derzeit kennt. Bei dieser Methode werden verschiedene Versionen einer Botschaft, eines Buttons oder irgendeines anderen Handlungstriggers kreiert, um so den effizientesten Auslöser für eine Kaufhandlung zu ermitteln. Wird das System in einem Laden installiert, versetzt es den Einzelhändler in die Lage, diverse Produktplatzierungen unter dem Aspekt der Verkaufsoptimierung auszutesten.

In der nächsten Phase der Customer Journey bietet die Firma Impinj aus Seattle Unternehmen die Möglichkeit, ihren Kunden in Echtzeit Produktvorschläge zu unterbreiten, ähnlich, wie Webseiten dies tun. Impini hat untereinander verbundene Umkleidekabinen entwickelt, in denen Technologien zur Funkwellenidentifikation (RFID-Technologien) zum Einsatz kommen. Dieser Ansatz gibt Verkäufern die Möglichkeit, den Kunden einfacher Produkte in anderen Farben oder Größen anzubieten. Darüber hinaus versorgt die von Impini entwickelte Technologie Geschäftsinhaber mit qualitativ hochwertigem Feedback.

Kein Warten an der Schlange mehr

Auch im Kassenbereich können Einzelhändler wichtige Analysen vornehmen. Wie viel Zeit verbringen Kunden durchschnittlich an der Kasse und welche Käufer neigen dazu, ihren Einkauf abzubrechen, wenn die Warteschlange zu lang ist? Amazon setzte bereits von Anfang an eine Reihe von Tracking-Indikatoren ein, um sicherzustellen, dass der Zeitaufwand für den Bezahlvorgang so weit wie möglich minimiert wird.

Dieser Ansatz führte den E-Commerce-Giganten zur Entwicklung seiner berühmten „1-Click“-Bestellung. Heute versorgt eine ganze Reihe von Firmen, darunter Riesen wie der amerikanische IT-Konzern Cisco und Ipsos Retail Performance aus Großbritannien Einzelhändler mit präzisen Daten zu Wartezeiten und dem Abbruch von Einkäufen aufgrund zu langer Schlangen. Dies bietet Ladeninhabern die Möglichkeit, Geschäftseinrichtung und -abläufe anzupassen.

Betrug im Griff

Einige Technologiefirmen bieten sogar kamerabasierte Systeme an, um Kassenbetrug aufzudecken. Stoplift Checkout Vision Systems aus Cambridge, Massachusetts, ermöglicht Ladeninhabern die Bekämpfung eines unter Angestellten weit verbreiteten Betrugsphänomens, das als „Sweethearting“ bekannt ist. Hierbei machen die Angestellten einen falschen Scan, um befreundeten Kunden einen Gratisartikel zu verkaufen. Die miteinander verbundenen Kameras von Stoplift sind in der Lage, eine Verbindung zwischen den aufgenommenen Bildern und dem Produktregistrierungssystem herzustellen, und alarmieren den Geschäftsleiter, sobald sie einen Betrug erkennen.

Das Ladengeschäft als Labor zur Kundenanalyse

So verwandelt sich der traditionelle Laden Schritt für Schritt in ein Testlabor, in dem sich das Sammeln von Daten zunehmend als Schlüsselelement auf dem Weg zur Verkaufsoptimierung etabliert. Doch solche Methoden wurden nicht erst im Internetzeitalter erfunden: Schon in der Blütezeit der großen Warenhäuser und im Zuge des Aufkommens der ersten Supermärkte in Europa Anfang des 20. Jahrhunderts führten Einzelhändler gezielte Tests durch und hatten Tracking-Werkzeuge zur Hand, um Kundenströme zu steuern und die Produktplatzierung zu optimieren.

Digitale Technologien ermöglichen inzwischen jedoch eine Automatisierung und Weiterentwicklung dieser Methoden, so dass diese inzwischen jeden Aspekt des Einkaufsverhaltens abdecken und beinahe flächendeckend im Einsatz sind. Heute arbeiten Einzelhändler mit Unterstützung durch zunehmend effizientere Technologien daran, mit den Best Practices im Online-Bereich Schritt zu halten und sie in stationären Läden zu replizieren.

Den Online-Giganten nicht aus den Augen verlieren

Die NRF 2017 Show war jedoch weit davon entfernt das Aufkommen von Technologien zur In-Store-Analyse von Kundendaten zu feiern. Vielmehr wurde ins Rampenlicht gerückt, wie weit die Entwicklung und Anwendung dieser Technologien durch den Wettbewerb fortgeschritten sind. Schließlich kann dieser jedes beliebige Problem umfassend angehen und Lösungen erarbeiten, die entlang der gesamten Wertschöpfungskette integriert werden können.

All dies wirft die Frage auf, wie die Menschen in Zukunft einkaufen werden. Der Online-Riese Amazon, der nicht auf dieser Pflichtveranstaltung für die Einzelhandelsbranche vertreten war, stellte kürzlich Amazon Go vor. Es handelt sich dabei um einen vollständig automatisierten Laden, in dem die Kunden nach der Selbstbedienungsmethode einkaufen können.

Die Einzelhandelsbranche sollte diesen Vorreiter des Datensammelns gut im Auge behalten, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Lösungen, die er selbst entwickelt, sondern auch in Bezug auf die Partnerschaften, die er schließt. Der Online-Gigant könnte mit seinen jüngsten Innovationen die Branche ein weiteres Mal in ihren Grundfesten erschüttern, indem er Einzelhändler nicht so sehr auf dem Gebiet des E-Commerce angreift, sondern direkt in ihrer ureigensten Domäne – dem stationären Ladengeschäft.

Übersetzung aus dem Englischen. Originaltext: Stores are now adopting Internet best practices von Léo Courbon, Consultant bei BNP Paribas Corporate and Institutional Banking (CIB).